Südwestlich der dänischen Stadt Roskilde befindet sich das
Freilichtmuseum
»LEJRE FORSØGSCENTER«. Das Forschungszentrum ist keine leblos-museale
Nachbildung vorgeschichtlicher Lebens- und Arbeitsbedingungen, hier
erwacht die kulturelle Entwicklungsgeschichte der Menschen zum Leben.
Mittendrin Erik Reime und Colin Dale, die seit sechs Jahren in einem
Zelt auf dem Wikingermarkt Runen und Petroglyphen tätowieren – mit
Handinstrumenten!
Text und Fotos: CLAIRE ARTEMYZ • Übersetzung: HEIDE HEIM
Eine Zeitreise in die Vorgeschichte können die Besucher im
Lejre Forschungszentrum unternehmen. Das Leben der Menschen von der
Steinzeit über die Eisenzeit bis zu den Wikingern wird hier authentisch
erlebt, da die Zelte und Hütten bewohnt sind. Ein Mal im Jahr tätowieren
die Tattoo-Forscher Erik Reime und Colin Dale in einem der Wikingerzelte.
Jedes Jahr im August beziehen Erik Reime und Colin
Dale aus Kopenhagen ein kleines Zelt mit Vorplatz inmitten des
Wikingermarktes des »Lejre Forschungszentrums«. Tätowierungen in einem
Museum? Ein ungewöhnlicher Ansatz, der jedoch gut in das Konzept des
Museums passt. Archäologische Experimente unterstützen die dänischen
Wissenschaftler bei ihrer Suche nach Antworten auf Fragen zur
Lebensweise ihrer Vorfahren: Zu sehen ist eine bewohnte Ansiedlung aus
der Mittelsteinzeit (5400 – 3900 v. Chr.), das Dorfleben der sich
erfolgreich gegen die Römer erwehrenden Skandinavier gegen Ende der
Eisenzeit (200 v. Chr. – 200 n. Chr.) und natürlich der Wikingermarkt,
auf dem die wilden und vor allem raublustigen Vorfahren der Skandinavier
ihre Beute, Nahrungsmittel wie auch selbst angefertigtes Kunsthandwerk
anboten (circa 950 – 1150 n. Chr.). Genau auf diesem Wikingermarkt
befindet sich jedes Jahr im August das Zelt der beiden Tattoo-Historiker
Erik Reime und Colin Dale.
Erik Reime konzentriert sich auf das mögliche Motivgut aus
der Vorzeit der Skandinavier, während der Kanadier Colin Dale sich auch
Anregungen von den Indianern Nordamerikas un der Inuit holt.
Archäologische Tattoo-Funde
Anhaltspunkte dafür, dass bereits die Wikinger tätowiert haben, fand der
gebürtige Norweger Erik Reime in einer arabischen Niederschrift, worin
die Wikinger als grob, dreckig und am ganzen Körper mit Bildern bedeckt
beschrieben sind. Kein Beweis, aber zumindest ein Anhaltspunkt. Zudem
standen die Wikinger in Kontakt mit den Skythen aus dem südlichen
Sibirien. Dass dieses Reitervolk die Praxis des Tätowierens kannte, weiß
man durch den 1947 im Altai-Gebirge gemachten Fund der Ruhestätte eines
Anführers, der vor über 2000 Jahren gestorben war. Der Leichnam trug
teils gut erhaltene, bildliche Tierdarstellungen und Jagdszenen. Auch
fanden dänische Archäologen bei einer anderen Ausgrabung Nadeln, von
denen man annimmt, dass sie zum Tätowieren verwendet wurden. Sie lagen
zusammen mit weiteren Gegenständen, die alle für den Körper bestimmt
waren. Datiert ist dieser Fund auf die Bronzezeit. Gestützt auf dieses
Wissen, stellte sich Erik Reime die Frage: Was haben sich die Menschen
in vorgeschichtlicher Zeit wohl tätowiert, die Menschen der Steinzeit
oder auch die Wikinger? Vielleicht ähnelten die Tätowierungen der auf
den ersten Blick naiv anmutenden Symbolsprache der Petroglyphen? Diese
bildlichen und grafischen Darstellungen hatten in der Bronzezeit
Skandinaviens nicht nur eine religiöse-kulturelle Bedeutung, sondern
dienten wahrscheinlich auch als Grenzmarkierung der jeweiligen
Stammesgebiete.
Durch die Kombination von Runen, geometrischen Mustern und
Petroglyphen schaffen Erik Reime und Colin Dale einzigartige
Kompositionen, in denen das Bild- und Schriftgut der skandinavischen
Vorfahren vereint werden.
Runen und Petroglyphen
Seine Forschungsarbeit startete Erik Reime mit dem Studium der Runen,
den ältesten Schriftzeichen der Germanen. Gerade in Skandinavien (die
lateinische Schrift gelangte erst im Mittelalter, im Zuge der
Christianisierung dorthin) findet man die zwischen dem 2. und 12.
Jahrhundert verwendeten Runeninschriften sehr häufig als Grabinschriften
oder zum Andenken an Familienangehörige auf Runensteinen. Diese
Runenzeichen kombiniert Erik mit dem typischen Tierstil, der auf
Schmuckgegenständen und Waffen der Wikinger zu finden ist, wie auch mit
den Darstellungen der Petroglyphen. Ineinander verflochten und mit
Punkten schattiert reicht die Bandbreite seiner Zeichnungen von
ab-strakten bis hin zu figürlichen Motiven, deren Ursprung man sowohl in
den germanischen Heldensagen wie auch im Pantheon der germanischen
Götter findet.
Vorgeschichtliches Tätowierwerkzeug. Während der Eisenzeit
könnten die Menschen Nadeln zum Tätowieren verwendet haben, davor ist
der Gebrauch von Naturwerkstoffen wie Dornen, aber auch geschliffenen
Feuersteinen möglich.
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Altertümliche Werkzeuge
Neben dem »Was« beschäftigte sich Erik Reime auch mit dem »Wie«. Wie und
mit welchen Hilfsmitteln haben sich die Menschen vor über 2000 Jahren
die Pigmente dauerhaft in die Haut gebracht? Die Antwort ist
offensichtlich: mit der Hand. Das Hilfsmittel ab der Eisenzeit, als die
Menschen gelernt hatten, Eisen für Werkzeuge und Waffen zu verwenden,
ist naheliegend: Erik kombinierte Eisennadeln je nach gewünschtem Effekt
und fertigte daraus Werkzeuge.
Aber was war, als die Menschen die Eisenverhüttung und -bearbeitung noch
nicht beherrschten? Eine wichtige Errungenschaft der Steinzeitmenschen
war der Umgang mit Feuerstein. Möglicherweise fand er auch als Werkzeug
zum Tätowieren Verwendung? Erik hat sich einige Feuersteine passend
geschliffen und sie ausprobiert – es klappte!
Daneben ist natürlich auch die Verwendung biologisch gewachsener
Gegenstände denkbar, wie beispielsweise Dornen. Diese wie auch das
Werkzeug aus Feuerstein verwendet er für die Punkt-Schattierungen.
Mit Nadel und Faden tätowierten die Inuit Grönlands, eine
Technik, die zu Demonstrationszwecken Colin Dale an sich selbst ausübt.
Tattoos per Hand, Nadel und Faden
Erik zur Seite steht seit vielen Jahren der Kanadier Colin Dale, der in
Eriks Kopenhagener Studio »Kunsten pa Kroppen« (Körperkunst) als
Lehrling anfing und sich auf individuelle Handtätowierungen
spezialisiert hat. Neben skandinavischen Motiven beschäftigt sich Colin
auch mit den Motiven der Inuit und den Ureinwohnern Nordamerikas. Bei
meinem Besuch tätowierte Colin gerade einen Fantasievogel auf die Hüfte
einer jungen Frau. Der Ursprung des Motivs ist bei den Indianern
Nordamerikas zu suchen. Für die angehende Bildhauerin verkörpert der
Vogel die stete Mahnung, Konstanz in ihr Leben zu bringen und zu
getroffenen Entscheidungen zu stehen.
Auf einem Schaffell vor der Hütte liegend bearbeitete Colin sie mit den
Werkzeugen – eine durchaus schmerzhafte Prozedur, welche von einem
beseelten Lächeln auf dem Gesicht der Frau begleitet wird. Colin
demonstrierte eine Tätowiertechnik, die bei den Inuit Grönlands
praktiziert wurde. Die Inuit tätowierten sich mit einer einzigartigen
Technik, die man sonst nirgendwo auf der Welt ein zweites Mal beobachten
konnte: Sie nehmen Nadel und Faden, tauchen den Faden in Farbe und
führten die Nadel unter der Haut durch. Colin tätowierte sich auf diese
Art selbst am linken Handgelenk und vervollständigte eine von Erik
angefangene Runenreihe. Eine Technik, mit welcher übrigens die Farbe
sehr dauerhaft in die Haut gebracht werden kann.
Die Fotografin Claire Artemyz interessiert sich bei ihrer
künstlerischen Arbeit vor allem für den Makrobereich des
Tätowirprozesses. Für ihre Detaliaufnahmen zoomt sie ganz nah heran und
erzeugt durch die fehlende Schärfentiefe einen surrealen Effekt.
Jedes Jahr im August findet man die beiden
Tattoo-Historiker Erik Reime und Colin Dale zwischen Bärenfellen,
Tierschädeln und einer an Bäumen aufgespießten Pferdehaut mitsamt Kopf
und Hufen, inmitten strohgedeckter Hütten ohne Elektrizität und
fließendes Wasser. Gerade so, als wäre es nie anders gewesen – eine
Tattooreise in die Vergangenheit.
LEJRE VERSUCHSZENTRUM
Slangenalleen 2
DK - 4320 Lejre
KUNSTEN PA KROPPEN
Erik Reime, Colin Dale
Radhusstraede 15
DK - 1466 Kopenhagen
http://www.tattoo.dk
TERMIN 2006
Erik Reime und Colin Dale werden auch in diesem Jahr (2006) wieder in
Lejre sein und zwar vom 29. Juli bis 6. August 2006.
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